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Gedenkfeier zum 75. Jahrestag der Auschwitzbefreiung

Unser ehemaliger Schüler, René Wennmacher, der die Ehre hatte, bei der Betreuung der ehemaligen Lagerinsassen zu den Feierlichkeiten anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz mithelfen zu dürfen, hat seine Gedanken und Gefühle verschriftlicht. An dieser Stelle möchte ich unserem ehemaligen Schüler herzlich für die sehr emotionale Schilderung danken:

"Seit kurzer Zeit bin ich wieder zurück in Deutschland und denke noch ständig über meine Erlebnisse im Museum und der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau am 27.01.2020 nach. Jeder Besuch im ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager des Dritten Reichs macht mich sprachlos und berührt mich zutiefst. Jedes Mal war es traurig, furchteinflößend und irgendwie unrealistisch. Zu unrealistisch, um das Gefühl zu haben, genug über den Holocaust, über die systematisch geplante Vernichtung von Menschen, zu wissen. Die Besuche haben Einfluss auf meinen weiteren Bildungsweg und damit Lebenslauf genommen. Im Jahr 2011 hat unsere Schule (Anita-Lichtenstein-Gesamtschule in Geilenkirchen) zum ersten Mal mit dem neunten Jahrgang eine Bildungsreise nach Krakau und Auschwitz unternommen, bei der ich teilgenommen habe. Ich kann mich noch sehr gut an die Vorbereitungstage erinnern, vor allem an eine Frau, die uns einen Koffer gezeigt hatte, in welchem sich jüdische Gegenstände befanden und eine unbekannte, aber wunderschöne jiddische Musik ertönte. Der Besuch von Auschwitz-Birkenau hat mich damals emotional sehr mitgenommen, aber grundlegend sensibilisiert und geprägt. Vor allem die persönlichen Gegenstände der ermordeten Menschen in den Lagerblöcken gesehen und den Auschwitz-Fotografen, Wilhelm Brasse, kennengelernt zu haben, beeindruckte und berührte mich ungemein. Es war nun möglich die Beweise für den Holocaust selbst zu sehen, zu hören und somit einen ganz neuen Blick auf das größte und schlimmste Menschenverbrechen der Geschichte zu gewinnen. Die Anita-LichtensteinGesamtschule hat mich nicht nur gelehrt und dafür sensibilisiert Sachverhalte multiperspektiv zu analysieren und Urteile zu fällen, sondern auch die Wichtigkeit der deutsch-polnisch-jüdischen Beziehungen zu verstehen, welche durch den Zweiten Weltkrieg massiv gestört wurden.

Heute studiere ich Polnisch und Geschichte auf Lehramt der Sekundarstufen I und II und habe auch teilweise in Polen gelebt, sodass ich mich mittlerweile mit Polen verbunden fühle. Während meines Auslandssemesters 2018 an den Instituten der Polonistik, Geschichte und Judaistik an der Jagiellonen-Universität in Krakau, musste ich das ehemalige Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau erneut besuchen, worauf sich schließlich ein fünfwöchiges Praktikum im August/September 2019 anschloss. In den fünf Wochen arbeitete ich im Archiv, im Büro für die Angelegenheiten der ehemaligen Häftlinge und in der Konservierung. Meine Nächte verbrachte ich dabei im ehemaligen Block der Kommandantur von Auschwitz I. Es war ein schreckliches und einschüchterndes Gefühl auf dem Gelände des Museums zu übernachten. Das Gelände von Auschwitz, unter anderem die Gaskammer, aus den Fenstern zu sehen, sowie nachts im Bett zu liegen und vorbeifahrende Züge in Oświęcim (die Stadt, in der sich das Museum Auschwitz-Birkenau befindet) zu hören, wohl wissend, was es vor 75-79 Jahren bedeutete, wenn sich ein Zug dem Lager näherte. Meine Zeit war von Albträumen, Furcht, Einschüchterung und Unsicherheit geprägt. Ich war sehr oft mit meinen Gefühlen überfordert und musste meine Arbeit teilweise kurzfristig abbrechen und mit mir selbst ringen und kämpfen. Dies trat zum Beispiel ein, als ich die kleinen, zerbrechlichen Schuhe von ermordeten Kindern in der Hand hielt und ein wenig säubern musste. Es fielen noch kleine Steinchen und Tiere aus den Schuhen heraus und eröffneten den Blick auf den Fußabdruck, den das Kind vor seiner Ermordung hinterlassen hatte... Es verletzte mich zutiefst, zu wissen, dass dieses Kind, dessen Schuhe ich gerade in der Hand hielt, mit seiner gesamten Familie in der Gaskammer seinen Tod fand. Die Zahnbürsten von ermordeten Menschen in die Hand zu nehmen, um diese auf ihren Zustand zu untersuchen... Das war eine weitere Arbeit, die bei mir Unruhe auslöste. Was für ein schreckliches Gefühl es doch ist, wenn ein Stück dieses Beweismittels für den Holocaust in seine Einzelteile zerbrach. Was machen wir nun damit? Ist es unsere Schuld, dass die Beweise verloren gehen? Die Mitarbeiter beruhigten uns und erklärten, dass es leider nicht ausbleibt, dass Objekte immer weiter zerfallen und wir den Prozess des Zerfalls nur verlangsamen können. Nach meinem fünfwöchigen Aufenthalt in Auschwitz stand für mich, trotz all der traurigen, aber prägenden Erfahrungen, schließlich fest, dass ich bei und an der Gedenkfeier zum 75. Jahrestag der Auschwitzbefreiung helfen und teilnehmen möchte.

Ich will allen ermordeten Menschen bestmöglich gedenken, die ihr Leben unter der Ideologie Nazideutschlands lassen mussten und dazu meinen eigenen Teil einbringen. Den Grundstein für dieses Engagement hat mir die Anita-Lichtenstein-Gesamtschule vor neun Jahren gelegt. Es muss über die Geschichte erzählt werden. Es muss an sie erinnert werden. Es muss aktiv gehandelt werden. Die Erinnerung darf nicht verloren gehen. Es war ein seltsames und einschüchterndes Gefühl als ich mich am 21.01.2020 erneut dem ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager näherte, obwohl ich dieses bereits doch mehrmals besucht und dort für mehrere Wochen intensiv meine Zeit verbracht hatte. Auch jetzt bekomme ich wieder Gänsehaut, wenn ich an den Aufenthalt denke. Ich hatte allerdings erst später erfahren, dass mir das Komitee des Museums Auschwitz-Birkenau für die Gedenkfeier eine ganz besondere Aufgabe zugeteilt hatte. Es ließ mir den Atem für einen kurzen Moment stocken, als ich erfuhr, dass ich dazu ausgewählt wurde, die Delegation der ehemaligen Auschwitzhäftlinge bei der Gedenkfeier zu begleiten und gemeinsam in Auschwitz-Birkenau Kerzen am Denkmal niederzulegen. Und dies, wenn die gesamte Welt auf dieses Ereignis schauen würde. Dieses geschenkte Vertrauen bedeutet mir auch nach der Gedenkfeier zum 75. Jahrestag der Auschwitzbefreiung noch sehr, sehr viel.

Um 15:30 Uhr des 27.01.2020 fanden sich schließlich alle Gäste, Staatsoberhäupter, Diplomaten, ehemalige Auschwitz-Häftlinge und deren Nachkommen, sowie Freiwillige im großen Zelt ein, welches das Todestor von Auschwitz-Birkenau einschloss. Dort lernte ich dann schließlich die Delegation der ehemaligen Auschwitz-Häftlinge für die Gedenkfeier zum 75. Jahrestag der Auschwitzbefreiung kennen: Batszewa Dagan, Elza Baker, Marian Turski und Stanisław Zalewski. Ich wurde überrannt von all meinen verschiedenen Emotionen, die ich vor Ort während der Gedenkfeier erlebte. Blickte ich von meinem Standort nach rechts, stand ich nur wenige Meter von über 200 Auschwitz-Überlebenden entfernt und sah traurige Blicke, Tränen, die über das Gesicht flossen und schwere Bewegungen. Blickte ich nach links, lag das beleuchtete Todestor direkt vor mir. Ich fühlte mich erdrückt, gestresst, verspürte einen Kloß im Hals und das Atmen fiel mir immer schwerer, wenn ich den Geschichten und Mahnungen lauschte und dabei die Reaktionen der anderen Auschwitz-Überlebenden beobachtete. Direkt vor mir ein jüdischer Mitbürger, der leicht in sich zusammenfällt und nur durch den Trost seiner Sitznachbarin zu beruhigen war. Ich fühlte Mitleid und großen Scham. Ich wusste nicht mehr, ob ich dieser verantwortungsvollen Aufgabe gewachsen war, die ehemaligen Auschwitz-Häftlinge zum Denkmal der Opfer zu begleiten und mit ihnen Kerzen niederzulegen. Irgendwann kam dann schließlich der Moment als die Delegation der Staatsoberhäupter und der ehemaligen Auschwitz-Häftlinge dazu aufgerufen wurden, ihren Weg zum Denkmal vorzunehmen. Ich atmete tief ein und versuchte zu vergessen, dass die ganze Welt auf dieses Ereignis schauen würde. Ich konzentrierte mich auf die Aufgabe und erlebte einen Tunnelblick, der sich ausschließlich auf die Delegation der ehemaligen Auschwitz-Häftlinge und auf die Erinnerung an alle ermordeten Menschen einschränkte. Dieser Moment galt ausschließlich ihnen. So realisierte ich auch erst später, dass ich von der belgischen Königin Mathilde und der Ehefrau des deutschen Bundespräsidenten, Elke Büdenbender, begrüßt wurde, als wir zusammen mit Batszewa Dagan und Elza Baker die Kerzen am Denkmal niedergelegt hatten.

Mein Freiwilligendienst endete mit dem Moment, als wir die Delegation der ehemaligen Auschwitz-Häftlinge wieder sicher zurück ins Zelt gebracht hatten, allerdings wurde ich dann noch ins Zentrum für Dialog und Gebet in Oświęcim eingeladen, wo ich die Möglichkeit hatte, mich mit einigen Auschwitz-Überlebenden zu unterhalten. Ich traf dort schließlich auf Alina Dąbrowska, welche in den Lagern Auschwitz, Ravensbrück und Buchenwald inhaftiert war, mich aber beim Abendessen ganz herzlichst anschaute und mir zulächelte. Alina Dąbrowska, Auschwitz-Häftling Nummer 44165, habe ich als einen unglaublich starken, faszinierenden und herzensguten Mensch kennenlernen können, der mich nicht nur unfassbar berührt, sondern mit ihrem großen Herz zu Tränen gerührt hat. Ich versuchte so lange wie möglich ihrer Geschichte zuzuhören, die sie mir freiwillig erzählte und dabei dann auch das Tattoo aus Auschwitz offenlegte. Ich kann diese gemeinsame Zeit nicht in Worte fassen und muss es vielleicht auch nicht. Die Gedenkfeier zum 75. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung und das gemeinsame Gespräch mit Alina Dąbrowska werden mir immer in Erinnerung bleiben. Der Abschied äußerte sich in einer sehr emotionalen Umarmung und ich hoffe, dass ich ihr eines Tages nochmal begegnen werde. Diesen Bericht verfassend, appelliere ich gleichzeitig, dass wir alles daran setzen müssen, dass sich etwas derartiges, grauenhaftes, wie der Holocaust, nicht wiederholen darf. Wir sind dafür verantwortlich, dass Hass, Ausgrenzung und Gewalt nicht die Oberhand gewinnen. Antisemitismus nicht geduldet und toleriert wird.

Ich glaubte noch bis vor kurzer Zeit, dass allein das Bewusstsein dafür, dass es den Holocaust gab, schon ausreichen würde, dass sich derartiges nicht wiederholen könne. Immerhin wird jährlich an die Ereignisse gedacht und weitere Denkmäler sollen diesbezüglich in der Bundeshauptstadt entstehen. Wir können täglich auf Stolpersteine treffen, die uns von Schicksalen verschiedener Menschen erzählen, die in der Zeit des Nationalsozialismus vertrieben, verfolgt, deportiert, ermordet oder in den Suizid getrieben wurden. Ich bin froh, dass wir eine solche Erinnerungskultur und -politik erleben, aber die Geschichten der Zeitzeugen werden wir in vielen Jahren nicht mehr aus primärer Quelle hören können und wenn ich mir die gegenwärtigen Entwicklungen anschaue, dann ist ganz besonders noch mehr Aufklärung und unser Handeln und Protest gegen die Diskriminierung und Feindlichkeit anderen Menschen gegenüber, eine Möglichkeit, die uns vor einer solchen Katastrophe schützen könnte. Wir sind dafür verantwortlich.

#niewieder

René Wennmacher"